Redebeiträge und Zusammenfassung der Ferhat Mayouf Kundgebung

Redebeitrag von Ihr seid keine Sicherheit

Vielen Dank an die Teilnehmenden dieser Kundgebung, wir freuen uns, dass wir beitragen können zu diesem unbeschreibbar wichtigen Gedenken an Ferhat Mayouf.
Ich komme von der Kampagne ISKS. Das steht für Ihr Seid keine Sicherheit. Mit der Kampagne wollen wir zeigen, dass Polizei, Justiz und andere Sicherheitsakteure für viele Menschen keine Sicherheit, sondern Unsicherheit bedeuten. Konkret haben wir uns bisher mit kriminalitätsbelasteten Orten, faschistischen Strukturen in Behörden und Alternativen zur Polizei beschäftigt. So viel zu uns. Wenn die Arbeit euch interessiert, sprecht uns gerne an.

In diesem Beitrag will ich darauf eingehen, wie zerstörerisch Knasterfahrungen für die betroffene Person aber auch für das Umfeld der Person sind. Im Besonderen, wenn es sich um auch aus juristischer Perspektive ungerechtfertigte Untersuchungshaft handelt. Ich habe mich hierfür entschieden, da ich als weiße Person nicht dieselben Erfahrungen mit Kriminalisierung und Repression mache, aber die Erfahrungen aus dem sozialen Umfeld eher mitbekomme und diese oft wenig thematisiert werden, wenn der Fokus auf dem Gefängnis und der Gewalt, die dort stattfindet bleibt.

Um zu zeigen, wie genau auch schon junge Menschen sich mit Knasterfahrungen auseinandersetzen müssen und über diese Bescheid wissen, will ich euch kurz von einem Erlebnis berichten: Anfang Juli hat im Wedding ein Fest von mehreren Jugendfreizeiteinrichtungen und Jugendclubs stattgefunden. Eine Sozialarbeiterin hat ohne Rücksprache Bullen eingeladen, es kamen drei Wannen mit circa 10 Cops, die sich dann mit Handschellen und Waffen auf dem Fest rumgetrieben haben. Es gab eine Bühne auf dem Fest, auf der vor allem männlich gelesene Jugendliche gerappt haben und die haben dann auch direkt auf die Cops reagiert und erzählt über Freund:innen und Bekannte, die im Knast sitzen oder dort hin müssen und es war klar, dass sowohl die Kids auf der Bühne, als auch die Jugendlichen davor genau wissen, was es heißt ein Familienmitglied an den Knast zu verlieren; schon voll früh lernen mussten, dass plötzlich ein Loch in ihr Verwandschafts-, Freundschafts-, Bekanntschafts- und Sicherheitsnetz geschlagen werden kann. Und für die ein Schicksal, wie das von Ferhat Mayouf, erlebte Realität ist, also dass eine Person wegen Kleinigkeiten oder Sachen, die nicht mal stattgefunden haben, weg muss und nie wieder als die Person zurückkommt, die sie kannten – auch wenn sie zurückkommt. Denn Knasterfahrung enthält Gewalt und Angst und erzeugt Traumata. Das heißt auch wenn die inhaftierte Person die Zeit überlebt, ist es unwahrscheinlich, dass die extreme psychische Belastung keine Spuren hinterlässt. Aber auch für die Angehörigen draußen besteht das Leid nicht nur aus dem Vermissen einer vertrauten Person.

Sondern es bricht auch ein Teil ihres sozialen Gefüges weg, jemand, der oder die vorher Aufgaben und Pflichten übernahm, ist plötzlich nicht mehr da. Eine Person, die vorher ihren Lebensunterhalt für sich und vielleicht auch andere bestritt, sich kümmerte und Sorgearbeit leistete. Vielleicht auch jemand der wichtige Bezugsperson für beispielsweise jüngere Geschwister war. Wenn Menschen miterleben, dass ihre älteren Geschwister oder Nachbar:innen oder Eltern wegen Kleinigkeiten in U-Haft kommen, signalisiert dies jungen Menschen, wie unsicher ihre Position in der Gesellschaft ist. Also, dass es jederzeit jemanden treffen kann der oder die aus ihrer Mitte gerissen wird. Im Zweifel irgendwann auch sie selbst.

Dies trifft nicht alle Menschen gleich. Sowohl in der U-Haft als auch im Jugendstrafvollzug sind überwiegend Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben und/oder von Rassismus betroffen sind. Häufig wird bei Menschen ohne deutschen Pass, ohne festen Wohnsitz oder ohne eine Festanstellung viel eher eine Fluchtgefahr angenommen und eine Untersuchungshaft angeordnet. Die Bedingungen in U-Haft sind noch menschenverachtender und die Unsicherheit durch eine fehlende Perspektive ist mental noch viel zehrender. Diese Situation kann psychisch krank machen und trifft bereits psychisch erkrankte Menschen besonders stark. Darum sollte nicht von Suizid in Haft gesprochen werden, sondern müsste es viel eher Mord durch Haft heißen müsste.

Bei Ferhat Mayouf ist unbestreitbar, dass die JVA Moabit sich in mindestens doppelter Hinsicht schuldig gemacht hat. Erst wurde sein Bitten nach einer Ärzt:in, trotz entsprechender richterlicher Anordnung, ignoriert. Dann öffneten die Justizvollzugsbeamt:innen seine Zellentür nicht, obwohl sie minutenlang hören konnten, wie er wegen eines Brandes um Hilfe schrie.
Ferhat Mayouf verstarb am 23.07.20 in seiner Zelle an einer Rauchvergiftung. Dies macht uns traurig und wütend.

Dies zeigt einmal mehr, dass Knast keine Sicherheit schafft, sondern Menschen bedroht und gefährdet. „Sicherheit“ für die einen bedeutet im schlimmsten Fall Tod für diejenigen, die als „kriminell“ behandelt werden. Diese absurde Idee von Sicherheit, die Sicherheit für einen kleinen Teil der Gesellschaft bedeutet, der bürgerlich und weiß ist, zeigt sich auch bei Polizeikontrollen oder an den Grenzen von Europa. Deswegen bleiben wir dabei: Ihr seid keine Sicherheit!


Übersicht
Criminals for Freedom (S.2)
Kay Schedel (S.3)
Women in Exile en francais und in deutsch (S.4)
Redebeitag vom Recherche Team Death in Custody (S.5)
Beiträge der Moderation zu Marcel, Hussam Fadl und Beate F. (S.6)
Redebeitrag von Ihr seid keine Sicherheit (S.7)
Redebeitrag der Roten Hilfe Berlin (S.8)
Redebeitrag von Free Mumia Berlin (S.9)
Aufruf für die Kundgebung „Gerechtigkeit für Nzoy!“ (S.10)