„Die Einzelfälle haben System“ – Redebeitrag vom 02.07.2022

Unser Redebeitrag auf der Demo zum Tod von Marcel in Schöneweide

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Anwesende,

ich grüße euch im Namen der Rote Hilfe Berlin. Wir haben uns hier versammelt, um Marcel zu gedenken und uns mit seinen Nächsten, Freundinnen, Bekannten und Unterstützerinnen zu solidarisieren. Marcel wurde am 20. April von der Polizei in Schöneweide angegriffen und verstarb eine Woche später an den Verletzungen.

Wenn die Polizei Menschen getötet hat, läuft stets dasselbe Programm: verleugnen, vertuschen, verharmlosen. Ein psychisch kranker Mann wird von 12 Kugeln getroffen, 7 davon in den Rücken – ein Fall von Notwehr, heißt es dann. Ein Gefangener verbrennt gefesselt in seiner Zelle – das soll ein Selbstmord sein. Auf dem Marktplatz Pfefferspray und Faustschläge ins Gesicht eines hilfsbedürftigen Patienten – dass er zusammenbricht und stirbt, soll damit nichts zu tun haben. Bedauerliche Einzelfälle, heißt es offiziell, für die außer den Opfern niemand Verantwortung trägt.

Es gibt viele solche Einzelfälle. In den letzten 30 Monaten sind bundesweit mehr als 60 Menschen durch Polizeieinsätze, in Knästen oder durch die Asylpolitik gestorben. In Berlin, wissen wir von mindestens 7 Toten:

  • Im Januar 2020 wurde Maria in ihrer Wohnung in Friedrichshain erschossen.
  • Im Februar wurde Mohamed tot in seiner Zelle in der JVA Tegel aufgefunden.
  • Im März starb Marius bei einem Zellenbrand in der JVA Tegel.
  • Im Juli starb Ferhat bei einem Zellenbrand in der JVA Moabit.
  • Im Dezember hat sich ein Mann, dessen Namen wir nicht kennen, wegen seiner drohenden Abschiebung das Leben genommen.
  • Im Mai 2021 verhungerte eine unbekannte Person in der JVA Tegel.
  • Und nun starb Marcel nach einem Polizeieinsatz.
  • Die Dunkelziffer liegt noch höher.

Wir widersprechen dem Gerede von bedauerlichen Einzelfällen.

Polizeigewalt kann jeden treffen. Aber sie trifft nicht alle gleichermaßen. Für Migrant:innen, Menschen in psychischen Ausnahmesituationen, Drogennutzer:innen, Sexarbeiter:innen oder Obdachlose sind polizeiliche Kontrollen, Schikanen und Platzverweise Teil ihres Alltags. Es sind jedesmal Risikosituationen, die leicht eskalieren können.

Menschen, die gesellschaftlich ausgegrenzt werden, wird die bloße Anwesenheit an bestimmten Orten verwehrt. Hier dürfen sie sich nicht aufhalten, dort sollen sie gehen, aber auch nicht hierhin oder dorthin – wohin denn? Letztlich wird Menschen so ihre Daseinsberechtigung abgesprochen. Der Tod von Marcel, einem Obdachlosen, der aus einem Hausflur mit Gewalt verjagt wird, ist ein weiteres trauriges Beispiel dafür.

Das ist hier kein Skandal. Die Polizei erfüllt ihren gesellschaftlichen Auftrag, wenn sie Arme verdrängt, Oppositionelle drangsaliert oder Grenzschutz über Menschenleben stellt. In der öffentlichen Ordnung, die sie schützt, ist zuerst einmal das Eigentum heilig und für seinen Platz in der Welt hat man zu zahlen. Gesetze rechtfertigen die Gewalt der Polizei. Und wenn die Cops die Verhältnismäßigkeit überschreiten, werden sie von der Justiz regelmäßig gedeckt, um die Illusion ihrer Unfehlbarkeit aufrechtzuerhalten. Die sogenannten Einzelfälle haben System.

Im Fall von Marcel ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Was können wir davon erwarten? Die Aufklärung in solchen Fällen der Polizei zu überlassen, ist weder objektiv, noch hilfreich. Es wäre naiv und fatal zu denken, dass sie sich selbst belasten wird. Ganz im Gegenteil. Wie wir erfahren haben, lauert die Polizei Zeugen, die den Angriff auf Marcel mitbekommen haben, auf offener Straße auf, verhört sie und setzt sie unter Druck. Hart greift sie durch gegen Aktivist:innen, die mit Plakaten auf den Todesfall aufmerksam machen. Marcels Tod wird nur aufgeklärt werden, wenn weiter öffentlicher Druck ausgeübt wird. Wir, die Rote Hilfe, erklären uns solidarisch mit allen, die deswegen selbst Probleme mit Polizei und Justiz bekommen. Wir sind an eurer Seite, ihr könnt euch auf unsere Unterstützung verlassen.

Wenn wir es ernst meinen mit der Beendigung tödlicher staatlicher Gewalt, kann es nur eine Antwort geben. Die Polizei gehört in ihrer jetzigen Form abgeschafft. Dafür müssen wir kämpfen. Lasst uns an der scheinbaren Unantasbarkeit und Unfehlbarkeit der Polizei mit aller Kraft rütteln. Wir sind es Marcel, Ferhat Mayouf, Maria, Oury Jalloh und all den anderen Opfern staatlicher Gewalt schuldig.