Wir teilen hier eine Reflexion der Recherche AG der Death in Custody Kampagne. Als Rote Hilfe Berlin waren wir damals Teil der Kampagne und arbeiten immer wieder zusammen mit den Genoss:innen aus der Recherche AG.
Diese Reflextion wurde auch in der Jungen Welt veröffentlicht.
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/469189.t%C3%B6dliche-polizeigewalt-selektive-solidarit%C3%A4t.html
Seit Mitte Dezember 2023 wird vor dem Dortmunder Landgericht über die Schuld von fünf Polizistinnen und Polizisten verhandelt. Sie waren mit weiteren Kollegen am 8. August 2022 an einem Einsatz beteiligt, der für den 16jährigen Mouhamed Lamine Dramé tödlich endete. Der junge Geflüchtete aus dem Senegal war mit mehreren Polizeischüssen regelrecht hingerichtet worden. Sein Tod hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt. Zu dem Polizeieinsatz kam es, weil Mouhamed Dramé mit einem Messer im Hof der Dortmunder Jugendeinrichtung saß, in der er erst seit wenigen Tagen untergebracht war. Sein Betreuer befürchtete, er könne sich selbst verletzen und verständigte deshalb die Polizei. Wie so oft beruhigten die herbeigerufenen Beamten die Lage nicht, sondern eskalierten sie. Sie griffen Mouhamed Dramé mit Pfefferspray und Tasern an und erschossen ihn schlussendlich mit einer Maschinenpistole.
Mouhamed Dramé war nicht das einzige Todesopfer von Polizeigewalt in jener ersten Augustwoche 2022: In Frankfurt am Main töteten am 2. August Beamte eines Sondereinsatzkommandos Amin F. aus Somalia mit einem Kopfschuss. Zuvor soll er zwei Sexarbeiterinnen in einem Hotelzimmer mit einem Messer bedroht haben. Diese hatten sich allerdings bereits der Situation entzogen, bevor das SEK anrückte. Als Amin F. erschossen wurde, stellte er keine Bedrohung für Dritte mehr dar. Am 3. August erschoss die Kölner Polizei den aus Russland stammenden Straßenmusiker Jozef Berditchevski. Die Beamten waren angerückt, um ihn aus seiner Wohnung im Stadtteil Ostheim zu räumen. Am 7. August starb ein Mann, dessen Name nicht öffentlich bekannt ist, im nordrhein-westfälischen Oer-Erkenschwick infolge eines Polizeieinsatzes. Der 39jährige soll zuvor in seiner Wohnung »randaliert« haben. Die Polizei hat nach eigener Darstellung Pfefferspray gegen ihn eingesetzt und ihn gefesselt. Dann soll er »plötzlich« das Bewusstsein verloren haben. Später starb er im Krankenhaus.
Ungleiche Aufmerksamkeit
Vier Fälle tödlicher Polizeigewalt in einer Woche – doch lediglich im Fall von Mouhamed Dramé kam es zu einem Gerichtsverfahren. Auch die öffentliche Wahrnehmung dieser vier Fälle unterscheidet sich stark. Über Mouhamed Dramé wurde und wird wiederholt in überregionalen Medien berichtet, sein Tod löste öffentliche Empörung und eine Diskussion über rassistische Polizeigewalt aus. Bei Jozef Berditchevski und Armin F. fiel die Berichterstattung deutlich geringer aus. Allerdings sind ihre Namen bekannt und es ist möglich, mittels einer einfachen Recherche mehr über ihr Leben und ihre Todesumstände zu erfahren. Von der vierten Person – dem Todesfall am 7. August 2022 in Oer-Erkenschwick – ist bis heute nichts Näheres bekannt. Dieser Todesfall blieb unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle und ist mittlerweile weitgehend in Vergessenheit geraten.
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